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Verfasst: 3. Nov 2006, 09:45
von stilz
Ich meinte ja auch nicht, daß ein Dichter sich beim Dichten denkt, "jetzt möchte ich gern einen Trochäus verwenden!". Natürlich: es geht um den Fluß der Sprache, und der wird "steigen" oder "fallen", je nachdem, wie es der Dichter für seine zugrundeliegenden Gedanken als passend empfindet.

... zu begreifen, was uns ergreift, schreibst Du, gliwi, und darauf können wir uns natürlich einigen (haben wir uns längst geeinigt, denke ich)!
Gerade deshalb ist es mir (wie ich auch an anderer Stelle schon sagte) so unverständlich, wenn eine "Gedichtinterpretation" mit einer "metrischen Analyse" beginnt, noch bevor ich mich überhaupt habe ergreifen lassen! Denn dann schaut es zunächst wohl oft so aus, als wäre das beliebig, ob man einen Vers "auftaktig" und dann "trochäisch gefüllt" versteht oder eher "jambisch gefüllt"...

Ich finde: wenn ich zuerst versuche, das Gedicht auf mich wirken zu lassen, mich hineinzufühlen, dann kriege ich ein besseres Gespür dafür, ob es an einer bestimmten Stelle "steigt" oder "fällt".
Und deshalb finde ich es dennoch "herumgefuhrwerkt", wenn ich in einer Analyse, ohne noch den Inhalt des Gedichtes "geschmeckt" zu haben, einfach so bestimme, etwas ist ein Jambus oder Daktylus, weil im normalen Sprachgebrauch ein bestimmtes Wort eben nur so oder so betont werden kann. Wenn ein Dichter sich die Freiheit nimmt, das eine oder andere Wort etwas anders als "normal" zu verwenden, dann möchte ich sie ihm gerne lassen, möglicherweise ist es ja genau das, was mich ergreift...

Liebe Grüße

Ingrid

Verfasst: 3. Nov 2006, 18:23
von gliwi
Ja, als Schülerin musste ich das tatsächlich auch so machen, zuerst das Metrum bestimmen - das war so üblich (vor der letzten Eiszeit). Ich versuche meinen SchülerInnen beizubringen, das diese Bestimmung kein Selbstzweck ist, sondern in die Interpretation hiningearbeitet gehört. Aber manche sind so froh, dass sie das Metrum rausgekriegt haben, dann denken sie, sie haben schon was geleistet, und dann lassen sie es so stehen. Es gibt auch noch gedruckte Interpretationen, die so vorgehen: erst mal das Metrum hinschreiben. Wahrscheinlich gibt es auch immer noch LehrerInnen, die sich danach richten. Das liegt wohl daran, dass es etwas Konkretes ist, während die sonstige Interpretation ja sehr subjektiv werden kann, und das macht auch die Benotung schwierig... Ansonsten gebe ich dir völlig recht. Wenn ich Zehnjährige unterrichte, stelle ich auch das richtige Sprechen des Gedichts in den Vordergrund, und da ist dann das Metrum ein Unterthema, das so mit reinläuft. Aber bei den "Großen" kann ich leider so nicht mehr rangehen. (Da beneide ich meine Waldorf-KollegInnen).
Liebe Grüße
Christiane