Schlaflied

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo Ingrid,

ich würde nicht sagen, dass Du völlig unbegabt ist, im Interpretieren. Dazu ist das Forum doch auch da : zum gegenseitigen Austauschen von Ideen und Gedanken über Rilke und dadurch auch zum Miteinander Lernen und Weitergehen .

Ich glaube kaum, dass jemand, der gerade verlassen worden ist, freigegeben worden ist, überhaupt richtig tief schlafen kann . Er wird immer wieder - weinend - aufwachen und von Albträumen geplagt werden ... bis er irgendwann neue Wege suchen kann...

Es tut ziemlich weh, einen wirklich guten Freund zu verlieren, wenn sich die Lebenswege trennen. Oft frage ich mich dann, Jahre später, was wohl aus Bekannten und Freunden geworden ist, die sich aus den Augen verloren haben .


Liebe Grüße von Anna :lol:
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo an alle,

ich habe gerade eure Beiträge am Stück gelesen und mir vorgestellt, Rilke täte das ebenfalls! Er wäre wahrscheinlich unbeschreiblich beeindruckt und ergriffen über die vielen Eventualitäten, Interpretationsnuancen, die ihr heraus gearbeitet habt und über die durch sein Gedicht angestossenen Gefühle.

Ich erfinde jetzt einfach mal eine Entstehungsgeschichte für dieses Gedicht:

Rilke beobachtet seine Geliebte (welche auch immer gerade), die nach einer Liebesbegegnung eingeschlafen ist. Vielleicht hatte sie ihn zuvor noch gebeten, über ihren Schlaf zu wachen und - wie das Liebende nun mal gerne zu tun pflegen - ihm vergewissert, dass sie ihn braucht. Rilke, mit seinem melancholischen Gespür für die Endlichkeit aller weltlichen Beziehungen, hat ihr dann ein Lied im Schlaf gesungen/ gedichtet, weil er so mit ihrer Seele, ihrem unbewussten Wesensanteil reden konnte, ohne gleich Protest zu ernten! Und das, was er ihr sagt, ist trotz aller Bindungsängste, die man ihm unterstellen kann, von einer großen Tiefe.

Anna, jeder weiß, wie weh der Verlust eines Menschen tut und dass man sich dem Leben vor Trauer für eine Zeit verschließt, wenn der andere auf die ein oder andere Weise gegangen ist und man sich selbst im übervollsten und schönsten Garten allein fühlt. Rilke muss wohl schon ein weit entwickeltes Bewusstsein für die Vision einer wahren Verbindung zwischen Seelen gehabt haben und seiner Geliebten gewünscht haben, über die emotionalen Abhängigkeiten, die immer wieder Schmerzen verursachen, hinaus zu gelangen...

Mir helfen Geschichten manchmal mehr, mich einzufühlen, als Wort für Wort zu analysieren (was natürlich genau so wichtig und interessant sein kann!) - vielleicht ist es ja auch für euch eine zusätzliche Anregung :?:

P.S. Über den Psychotherapeuten, der Patienten in einem Garten einschließt, war ich allerdings entsetzt! Es ist in Ordnung, sich selbst einen geschützten Raum, den kein anderer betreten darf, zu visualisieren, aber NIEMALS umgekehrt! Das betrachte ich als anmaßenden Übergriff auf die psychische Autonomie anderer und gar nicht so weit von schwarzer Magie entfernt (auch nicht, wenn es ein "schöner" Garten ist!); gerade auch deswegen, weil die Betroffenen weder informiert noch in der Lage sind, sich "zu befreien"!

Liebe Grüße :D
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Keine Angst, Marie, bei einem Garten kommt man immer irgendwie obendrüber, sogar, wenn man total unsportlich ist! :wink: :lol:
Gliwi (klaustrophob)
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo an alle,

liebe Anna, inzwischen habe ich bei Rilke selbst noch etwas gefunden, das sehr schön erklärt, auf welcher Grundlage ich dieses "Freigeben" im Schlaflied verstehe, es steht im Brief an Emanuel Bodman:

Es handelt sich in der Ehe für mein Gefühl nicht darum, durch Niederreißung und Umstürzung aller Grenzen eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, vielmehr ist die gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.
Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welche einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt.
Aber, das Bewußtsein vorausgesetzt, daß auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!
Deshalb muß also auch dieses als Maßstab gelten bei Verwerfung oder Wahl: ob man an der Einsamkeit eines Menschen Wache halten mag, und ob man geneigt ist, diesen selben Menschen an die Tore der eigenen Tiefe zu stellen, von der er nur erfährt durch das, was, festlich gekleidet, heraustritt aus dem großen Dunkel.
So ist meine Meinung und mein Gesetz.



Und deswegen finde ich dieses Gedicht auch so schön und tröstlich, es ist ein wunderbares Gefühl, jemanden zu haben, den man zum Wächter seiner Einsamkeit bestellen kann und ihm damit dieses größte Vertrauen beweisen, das man zu verleihen hat.

Genau darum geht es für mich im "Schlaflied", das ist die Gegenwart, die dieses Gedicht schildert.
Und gleichzeitig gibt es das Bewußtsein, daß - wie alles im Leben! - diese Gegenwart vergänglich ist, aber hoffentlich nicht schon morgen oder übermorgen, sondern irgendwann einmal, wenn ich dich verlier...

Liebe Anna, Du sagst
Ich glaube kaum, dass jemand, der gerade verlassen worden ist, freigegeben worden ist, überhaupt richtig tief schlafen kann .
Ich gebe Dir vollständig recht, wer gerade verlassen worden ist, schläft sicher nicht gut - und nicht nur ich gebe Dir recht, sondern auch Rilke scheint es zu tun, daher kommt doch die Frage in der ersten Strophe:
wirst Du schlafen können, ohne daß ich da bin?

Aber meiner Meinung nach ist eben "Verlassen" etwas ganz anderes als "Freigeben"...


Liebe Grüße!

Ingrid


P.S. für Marie:

Ich verstehe Deine Bedenken wegen des "nachts in den Park Einschließens von Patienten"... aber ich finde, es macht schon einen Unterschied, wenn man weiß, daß diese Patienten auch physisch Tag und Nacht in einer Klinik verbringen, zu ihrem eigenen Schutz, und in gesellschaftlich total akzeptierter Weise... da stellt doch so ein schöner großer Park eine Erweiterung des geschützten Raumes dar, nicht in erster Linie ein Festhalten...

Abgesehen davon bin ich mit gliwi davon überzeugt, daß sie trotzdem rauskönnten!
Paula
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Beitrag von Paula »

Hallo,


... und ich habe mir heute einfach mal einen Tag frei genommen :wink: :lol: !


Liebe Grüße von Paula :lol:
helle
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Beitrag von helle »

Ein Nachtrag noch zum "verschließen" aus: "Du mußt nicht bangen, Gott":

"Sie sagen mein und nennen das Besitz,
wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn.
[...]
So sagen sie: mein Leben, meine Frau,
mein Hund, mein Kind"

(Mein Gruß zur Nacht)
H.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Ingrid,
ich kenne die Kraft imaginärer Bilder (auch auf Andere) und deswegen bleibe ich bei meiner Meinung (auch wenn 95% aller Leser das vielleicht anders sehen, was nicht heißt, dass diese 95% die Realität tatsächlich richtig erfassen!): es macht keinen Unterschied, welche Menschen ich einschließe! Ganz abgesehen davon, finde ich es neurotisch, andere Menschen per Visualisierung einzuschließen, um sich selbst sicher zu fühlen!
Witzigerweise fühle ich mich auch noch durch unser Titelthema und damit Rilke unterstützt:

Ohne daß ich dich verschließ
und dich allein mit deinem lasse
wie einen Garten mit einer Masse
von Melissen und Stern-Anis


Liebe Grüße
:wink:
stilz
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Beitrag von stilz »

Liebe Marie,

ich danke Dir für Deine Gedanken dazu, es hat mich sehr nachdenklich gemacht --- auch wenn ich trotzdem nicht so weit gehen würde, es als neurotisch zu bezeichnen oder sonstwie zu verurteilen, wenn jemand glaubt, das dennoch tun zu müssen oder sollen, warum auch immer.
Schließlich ist die ganze Welt bevölkert mit Menschen, die in ihrer Phantasie alles Mögliche und Unmögliche miteinander anstellen, diese Gedanken- und Vorstellungsfreiheit würde ich nicht beschränken wollen!

Und ich gehe davon aus, daß wir in unserer eigenen Gefühls- oder Vorstellungs- oder Seelenwelt (wie immer wir es auch nennen wollen) uns auch wehren können gegen etwaige "Übergriffe".
Außerdem glaube ich, daß, wenn wirklich eine negative Kraft in solchen Visualisierungen liegen sollte, dieses Negative viel eher auf den Visualisierer zurückfällt als auf die "Objekte"!


Interessant finde ich Dein Zitat der letzten Rilke-Strophe in diesem Zusammenhang, denn ich fühle mich auch durch Rilke "unterstützt", ich nehme nämlich den Anfang der ersten Strophe dazu und lese daher als ganzen (Frage-)Satz:


Einmal wenn ich dich verlier,
wirst du schlafen können, ohne
...daß ich dich verschließ
und dich allein mit deinem lasse
wie einen Garten mit einer Masse
von Melissen und Stern-Anis



Liebe Grüße!

Ingrid
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

es fragt sich doch auch , wie und warum man in den Garten gekommen ist. Wurde man vielleicht eingeladen ? Hat man mitgeholfen bei der Gartenarbeit - weil der Eigentümer nur wenig oder gar keine Zeit hatte - (hat Blumen gegossen, Unkraut gejätet, Rasen gemäht, vielleicht auch mal den einen oder anderen Vorschlag gemacht, was an Kräutern und Blumen angepflanzt werden könnte...) und darf sich auch mal zwischendurch bei einer Tasse Kaffee oder schlafend ausruhen unter den Obstbäumen und bei den Schmetterlingen ...?

Anna :lol:
stilz
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Beitrag von stilz »

Liebe Anna,

bei Rilke heißt es doch aber eigentlich:

ohne daß ich Dich verschließ... wie einen Garten..., und nicht in einem Garten!

Deshalb glaube ich ja auch, es ist gemeint, die Geliebte ist für "Ihn" wie ein Garten mit würzigen Kräutern, und in diesem Garten darf "Er" zwar immer wieder lustwandeln, aber zum Schlafen braucht der Garten seine Ruhe und soll "allein mit Deinem" gelassen werden...

Ich widme mich heute übrigens schon den ganzen Tag der Gartenarbeit!

Lieben Gruß

Ingrid
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo Ingrid,

man kann es anders lesen:

Einmal wenn ich dich verlier,
wirst du schlafen können, ohne
daß ich wie eine Lindenkrone
mich verflüstre über dir?

... wenn Du sagst:

...wirst du endlich schlafen können...

Der Geliebte hat zuerst seine Freundin verlockt in den wunderschönen Garten zu kommen - sie ist eine Gartenfreundin und deswegen kennt sie sich aus mit Gärten, aber noch nie war sie in diesem. Zuerst ist sie sehr scheu und traut sich nicht so richtig, er aber überredet sie . Nun lässt er sie allein im Garten und - sie ist sehr verantwortungsbewußt - damit nichts umkommt im Garten, kümmert sie sich ... Er genießt das... Er lobt ihre Gartenarbeit... Er behauptet ihr gegenüber , es wäre ihr Garten, damit sie sich noch mehr Mühe gibt.... Erst wenn er sie freigibt , kann sie - endlich - schlafen .... Du könntest das "Massen" hier auch als kleinen Sarkasmus auffassen... :

Oder, was meinst Du ?

Anna :lol:
stilz
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Beitrag von stilz »

Liebe Anna,

tut mir leid, das scheint mir etwas weit hergeholt, ich glaube, wenn Rilke "wirst du endlich schlafen können" hätte sagen wollen, hätte er es getan! Ich glaube nicht, daß wir da noch etwas hinzufügen müssen.

Ich bin nach wie vor der Meinung, bei diesem Gedicht handelt es sich um eine Schilderung, was die beiden Geliebten in der Gegenwart füreinander sind, in wunderbaren Worten und Bildern ausgedrückt, aber eben auch im Bewußtsein der prinzipiellen Vergänglichkeit dieser Gegenwart...

Lieben Gruß

Ingrid
Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Sag mal, Ingrid, bist Du noch nie ausgebeutet worden ? Du Glückspilz... :wink: !

Ich les gerade mit im Newsticker von http://www.gegendruck.info ! Hängt ja schließlich auch mein Job etwas von ab . Ich kann nur sagen:

Streiken statt schlafen !!!

Paul :lol:
"... Knaben, o werft den Mut/ nicht in die Schnelligkeit,/ nicht in den Flugversuch./ Alles ist ausgeruht:/ Dunkel und Helligkeit,/ Blume und Buch." (R.M. Rilke)
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo Paul,

(naja, wenn ich an die Bezahlung mancher Kirchenmusik-Auftritte denke...)

Aber Du hast recht: ich hab mich wirklich noch nie ausgebeutet gefühlt (vielleicht auch, weil ich mich nicht so leicht ausbeuten lasse?)

Und selbst wenn: was hätte das mit Rilke zu tun?

Lieben Gruß!

:lol:

Ingrid
Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Hallo Ingrid,

... hast ja Recht ... ! Ich wollte mit dem Hinweis nur unsere Kollegen in der Druckindustrie etwas unterstützen :wink: !

Hat nicht irgendwo irgendjemand im Forum schon mal die Frage gestellt, ob Rilke einen Beruf hatte ... ?!

Viele Grüße von Paul :lol:
"... Knaben, o werft den Mut/ nicht in die Schnelligkeit,/ nicht in den Flugversuch./ Alles ist ausgeruht:/ Dunkel und Helligkeit,/ Blume und Buch." (R.M. Rilke)
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