und nun möchte ich noch versuchen, auf Ihre Fragen nach dem „inständigen Ringen“ und dem „innigen Entbehren“ zu antworten – für mich hängen die beiden Begriffe im Gedicht „Wendung“ zusammen.
(Und sicherheitshalber möchte ich kurz anmerken: weder bin ich "Rilke-Expertin", noch auch (schon gar nicht!) so etwas wie "Expertin" für das, worauf Rilke in seinen späten Dichtungen deutet. Ich versuche nur, aufzuschreiben, wie ich persönlich diese Dichtungen verstehe.)
Sie nehmen Bezug auf das Sonett XXI, ich möchte damit beginnen:
- Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst; wie in Glas
eingegossene Gärten, klar, unerreichbar.
Wasser und Rosen von Ispahan oder Schiras,
singe sie selig, preise sie, keinem vergleichbar.
Zeige, mein Herz, daß du sie niemals entbehrst.
Daß sie dich meinen, ihre reifenden Feigen.
Daß du mit ihren, zwischen den blühenden Zweigen
wie zum Gesicht gesteigerten Lüften verkehrst.
Meide den Irrtum, daß es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluß, diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, daß der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.
Nun kann es in unmittelbar "seiendem" Erleben einige der „Bilder“ des „rühmlichen Teppiches“ in sich erfahren.
Es wäre aber ein Irrtum, zu denken, daß es deshalb von den restlichen Bildern, von den „Gärten“, die es nicht aus eigenem unmittelbaren Erleben „kennt“, ausgeschlossen bleiben muß, daß es sie „entbehren“ muß, sie nicht „haben“ kann.
Denn im Erleben eines einzigen der „Bilder“ („Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist“) kann für dieses Herz „der ganze, der rühmliche Teppich“ fühlbar werden.
Aus dieser Erkenntnis heraus möge das Herz dann auch das ihm scheinbar Unbekannte preisen…
Ein Herz, das nicht dem Irrtum verfällt, es müsse entbehren, leistet sozusagen Verzicht auf diesen Irrtum, Verzicht auf die Entbehrung (auf das Gefühl des Mangels). Aus Verzicht auf Entbehrung ergibt sich das Gegenteil von Entbehrung – nämlich Fülle.
Im Gedicht „Wendung“ finde ich das „Entbehren“ nicht als sein Negativ (das ja „Fülle“ bedeutet), sondern es ist wirkliches Entbehren, wirklicher Mangel, der im Blick des Schauenden liegt.
Dieses „innig entbehrend“ bezeichnet etwas, das für mich am besten mit dem englischen Begriff „want“ wiedergegeben ist, der ja nicht nur „wünschen“ bedeutet, sondern gleichzeitig auch „Mangel“, bzw als Verbum „Mangel leiden“: es gibt eine Sehnsucht nach der Erfüllung einer „Leerstelle“, es liegt eine drängende Frage in seinem Blick, die (noch) der Antwort ermangelt… und diese unaufhörliche, inständige (das Wort „Instand“ ist heutzutage nicht mehr gebräuchlich, ich weiß nicht, ob es zu Rilkes Zeiten anders war, oder ob er selbständig ein Hauptwort zu „inständig“, beharrlich, unablässig, bildete) Frage/Bitte ist es, die ein „Göttliches“ letztlich „müd“ macht, dieses „Geistige“, das sich hinter den Dingen verbirgt, das sich dem Blick eines Menschen nicht sofort zu erkennen gibt, sondern erst dann, wenn man hinschaut, wenn man fragt, wenn man eine Antwort „entbehrt“ und sich nicht davon abbringen läßt, sie zu „verlangen“ ---
Dieses „inständige Hinschauen“ ist für mich das „Ringen“ des Schauenden im Gedicht „Wendung“.
Der Engel, mit dem Jakob ringt, kommt im Gegensatz dazu ohne einen vorherigen Entschluß Jakobs. Das ist eine Prüfung, die Jakob auferlegt wird, ohne daß er sie „verlangt“ hat.
Der Schauende in der „Wendung“ hingegen ringt aus eigenem Entschluß um die Erkenntnis des „Göttlichen“.
Und dennoch – obwohl das „Entbehren“, das im Blick des Schauenden liegt, so etwas wie „Erfüllung“ zu finden scheint, ist es doch noch nicht wirklich „Fülle“, die er nun erlebt: denn etwas fehlt ihm noch dazu.
Es ist das „Herz-Werk“ --- und deshalb auch finde ich Ihre, lieber Dasha, Assoziation zum obigen Orpheus-Sonett so stimmig: denn die Fülle, von der in diesem Sonett die Rede ist, ist die Fülle, die das Herz zu fühlen aufgerufen ist…
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch aufmerksam machen auf die Zeilen von Rudolf Kassner, die Rilke dem Gedicht „Wendung“ voranstellt:
- Der Weg von der Innigkeit zur Größe
geht durch das Opfer.
Waldteich, weicher, in sich eingekehrter -,
draußen ringt das ganze Meer und braust,
aufgeregte Fernen drücken Schwerter
jedem Sturmstoß in die Faust -,
während du aus dunkler unversehrter
Tiefe----Spiele der Libellen schaust.
Was dort jenseits eingebeugter Bäume
Überstürzung ist und Drang und Schwung,
spiegelt sich in deine Innenräume
als verhaltene Verdüsterung;
ungebogen steht um dich der Wald
voll von steigendem Verschweigen.
Oben nur, im Wipfel-Ausblick, zeigen
Wolken sagenhafte Kampfgestalt.
Dann: im teilnahmslosen Zimmer sein,
einer sein, der beides weiß.
O der Kerze kleiner Kreis,
und die Menschennacht bricht ein
und vielleicht ein Schmerz im Körper innen.
Soll ich mich des Sturmmeers jetzt entsinnen
oder Bild des Teichs in mir behüten
oder, weil mir beide gleich entrinnen,
Blüten denken -, jenes Gartens Blüten -?
Ach wer kennt, was in ihm überwiegt.
Mildheit? Schrecken? Blicke, Stimmen, Bücher?
Und das alles nur wie stille Tücher
Schultern einer Kindheit angeschmiegt,
welche schläft in dieses Lebens Wirrn.
Daß mich eines ganz ergreifen möge.
Schauernd berg ich meine Stirn,
denn ich weiß: die Liebe überwöge.
---Wo ist einer, der sie kann?
Wenn ich innig mich zusammenfaßte
vor die unvereinlichsten Kontraste:
weiter kam ich nicht: ich schaute an;
blieb das Angeschaute sich entziehend,
schaut ich unbedingter, schaute knieend,
bis ich es in mich gewann.
Fand es in mir Liebe vor?
Tröstung für das aufgegebne Freie,
wenn es sich aus seiner Weltenreihe
wie mit unterdrücktem Schreie
in den unbekannten Geist verlor?
Hab ich das Errungene gekränkt,
nichts bedenkend, als wie ich mirs finge,
und die großgewohnten Dinge
im gedrängten Herzen eingeschränkt?
Faßt ich sie wie dieses Zimmer mich,
dieses fremde Zimmer mich und meine
Seele faßt?
--------------O hab ich keine Haine
in der Brust? kein Wehen? keine
Stille, atemleicht und frühlinglich?
Bilder, Zeichen, dringend aufgelesen,
hat es euch, in mir zu sein, gereut? -
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Oh, ich habe zu der Welt kein Wesen,
wenn sich nicht da draußen die Erscheinung,
wie in leichter vorgefaßter Meinung,
weither heiter in mich freut.
Lieben Gruß!
Ingrid (die sich damit schon wieder für eine Woche verabschiedet )