Buch der Bilder - "Abend"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Hannah

Buch der Bilder - "Abend"

Beitrag von Hannah »

Hallo,

ich darf ein Rilke Gedicht interpretieren und hatte gehofft auf eurer Site mehr zum Buch der Bilder und speziell zum Abend zu finden.

Es wäre schön, wenn ihr ein paar Gedanken zu dem Gedicht aufschreiben könntet, damit ich sehe ob ich mich in die richtige Richtung bewege?!

Hannah
ralf
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Beitrag von ralf »

hi
ich beschäftige mich nun auch mit rilkes gedicht "Abend".

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Nun habe ich eine Frage zur metrik: handelt es sich im letzten vers um einen Daktylus oder um einen Jambus(wobei jedoch der Sprecherrhythmus gegen das metrum verhält.die kadenzen würden aber analog zum reimschema(abab,cdcd,effe) laufen)?
Zur Deutung: Ich würde sagen, dass gedicht beschreibt den "Lebensabend"
1.strophe:
die abende werden immer länger.das leben neigt sich zu ende. „vor dir scheiden sich die länder“ -> die zwei wege, die sich nach dem tod auftun! der himmel und die hölle.der eine steigt auf in den himmel und die andere seele fällt! – in die hölle
2.strophe:
der mensch gehört weder in den himmel noch in die hölle! er denkt über sein leben nach , über seine schlechten taten und weiß noch nicht so recht, welcher platz nach dem tod für ihn bestimmt ist
3.strope:er kann das geschehen nicht aufhalten.in seinen gedanken spiegelt sich das leben wieder, mal die guten seiten „gestirn“ mal die schlechten „stein“...
der übergang von tag zu nacht stellt den übergang von leben und tod bildlich da.
was meint ihr dazu?
was bedeuten diese verse genau?
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;

nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,

nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend

wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Schwierig, die Metrum-Frage. Aber im zweifelsfall müssen wir vom heutigen korrekten Hochdeutsch ausgehen, und dann fängt der letzte Vers mit einem Daktylus an und macht mit Trochäen weiter, denn der Ton liegt nun mal auf AB und nicht auf WECHS.
Meines Wissens kommt die Hölle als Ort, wo die Seele nach dem Tod hinkommen könnte, als solche bei Rilke nicht vor. Also so eine enge theologische Deutung trifft es nicht ganz. Das Größte für Rilke war nicht das Paradies, sondern gute Gedichte zu machen. Der Stern, das Nach-Oben-Gehen, steht meiner Ansicht nach für das gelingende Dichten - bei einem anderen Menschen wäre es vielleicht ein anderes Ziel, das er sich für sein Leben vornimmt - , der Stein, das Erdschwere, das einen "runterzieht", das ist dann alles das, was einen dran hindert, ein vollkommener Dichter - eine vollkommene Pianistin oder was immer - zu sein. Und das Leben ist eben aus beidem gemischt, der Alltagskram und der "Höhenflug". Das "Begrenzte" und das "Begreifende". Der "Abend" ermöglicht ihm, dass er das überschaut. Am "Morgen", als junger Mensch, glaubt man vielleicht, dass man den Höhenflug ganz schafft, ohne das runterziehende Schwere. Aber am "Abend" weiß man, dass das eine ohne das andere nicht möglich ist.
Ich glaube nicht, dass es um den Tod geht, der Tod spielt m. E. keine Rolle hier, denn was als Stern aufsteigt, geht ohnehin über das irdische Leben hinaus, also die besten Gedichte bleiben bestehen, auch wenn der dichter nicht mehr lebt.
Vers 1: Ein schönes Bild für den Übergang von Tag zu Nacht.
Gruß
gliwi
p.s. Lies auch mal, was lilaloufan zum thema "Feindschaft zwischen Leben und Arbeit" gepostet hat - das ist es, was ich meine, das Leben als Stein und die Arbeit als Stern!
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Beitrag von stilz »

Natürlich möchte ich mich auch sehr gern wieder "einmischen", wenn auch derzeit eher unregelmäßig, da mein notebook zur Reparatur mußte, oh, wie laaaang sowas dauert, und wie sehr ich mich schon daran gewöhnt hatte, das "Netz" jederzeit besuchen zu können...

---

Um mich diesem Gedicht zu nähern, würde ich zuerst einmal am Abend hinaus ins Freie gehen, am besten irgendwo, wo es nicht allzuviele Scheinwerfer und Straßenlampen gibt, und wo ich gleichzeitig mit dem Himmel auch noch ein paar Bäume sehen kann, selbst wenn es keine alten sein sollten... und dann lasse ich diese Stimmung auf mich wirken...

Der Abend wechselt langsam die Gewänder... das Licht ändert sich, die Farben... ich schaue, und lasse dabei alle Gefühle zu, die sich in mir regen mögen.
Bei vielen Menschen gibt´s dann irgendwann den Impuls, doch wieder ins Haus zu gehen, Licht zu machen, oder auch draußen alles mit irgendwelchen Lampen zu erleuchten, bevor es "entrisch" wird, wie wir in Wien zu sagen pflegen.
"Entrisch" kommt von "enten", was soviel wie "drüben" bedeutet - und das paßt hier ziemlich gut, finde ich.
Wenn man nämlich diesem "alles soll wieder hell sein"-Impuls nicht nachgibt, sondern sich traut, eine Stille entstehen zu lassen, über die nicht drübergeredet wird, dann kann man sie spüren, Rilkes zwei Länder... und es gibt vielleicht Gedanken zu "wo komm ich her? wo geh ich hin? warum bin ich da? was ist das Leben? was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr da bin?" oder zu ähnlichen Themen.
Um diese Stimmung zu begreifen, brauche ich eigentlich die Metapher "Abend = Lebensabend" nicht, ich denke, daß auch junge Menschen, die noch sehr viel Leben vor sich haben, sich vor solche Fragen gestellt sehen können.

Dann gibt es noch etwas Interessantes:
und von dir scheiden sich die Länder, heißt es hier, nicht "vor dir", wie Du, Ralf, schreibst (leider steht mir gerade keine gedruckte Quelle zur Verfügung, sollte es doch im Original "vor dir" heißen, bitte ich um einen Hinweis!).
Für mich heißt das: der Schauende ist nicht Teil dieser Länder, sondern eben zu keinem ganz gehörend, es gibt ein zweifelndes Schwanken, und sein Leben wird abwechselnd Stein ... und Gestirn.

Gliwis Gedanke, das, was Stern wird jede Nacht und steigt, könnten die "guten Gedichte" sein, und das "Mißlungene" oder "Alltägliche" wäre der "Stein", ist zwar sehr interessant, aber für mich ein bisserl zu "biographisch".

Ich verstehe es so, daß das ganze Leben einem bang und riesenhaft und reifend erscheint, abwechselnd steigt und fällt, nicht einzelne Teile steigen, andere fallen.
Und mit dem Steigen und Fallen verbinde ich auch nicht "Himmel und Hölle", sondern es geht eher um sicher Ewiges beschwörend...
Es ist das Bewußtsein des Nicht-Wissens: "wohin gehöre ich? was ist das, dieses mein Erdenleben?" - Es geht eben um diese schwankende, bange Stimmung, die sich gerade in den abendlichen (oder auch morgendlichen) "Zwitterstunden" so viel leichter einstellt scheint als am hellichten Tag, wo alles wieder ganz klare Konturen und Ziele zu haben scheint...
Ich finde nicht, daß in diesem Gedicht eine Antwort auf diese Fragen gegeben wird, sondern es gibt dabei etwas, das ist unsäglich zu entwirrn...
Das heißt für mich: ich muß auch in einer Interpretation nicht versuchen, dieses Unsägliche doch zu sagen.
(((Dazu fällt mir auch ein: ...ich möchte Sie... bitten ..., Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben ... Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. (aus den Briefen an einen jungen Dichter) )))

Ich möchte dazu auch noch ein anderes Gedicht hier hereinstellen, das sich mit ähnlichen Fragen und Stimmungen beschäftigt:

NÄCHTLICHER GANG

Nichts ist vergleichbar. Denn was ist nicht ganz
mit sich allein und was je auszusagen;
wir nennen nichts, wir dürfen nur ertragen
und uns verständigen, daß da ein Glanz
und dort ein Blick vielleicht uns so gestreift
als wäre grade das darin gelebt
was unser Leben ist. Wer widerstrebt
dem wird nicht Welt. Und wer zuviel begreift
dem geht das Ewige vorbei. Zuweilen
in solchen großen Nächten sind wir wie
außer Gefahr, in gleichen leichten Teilen
den Sternen ausgeteilt. Wie drängen sie.



Die Frage nach dem Versmaß bzw Daktylus oder doch Jambus in der letzten Zeile? würde ich erst jetzt stellen, nachdem ich mir das alles überlegt habe.
Ich finde es eigentlich ziemlich seltsam, damit anzufangen, noch bevor ich überhapt weiß, was denn eigentlich ausgedrückt werden soll mit seiner (des Versmaßes) Hilfe.

Und da finde ich nun also ein zweifelsfreies Durchhalten des alternierenden Versmaßes durch das gesamte Gedicht, eine Ausnahme bilden nur die ersten beiden Silben der letzten Zeile, sozusagen am "Abend" des Gedichtes...
Jambus? Nein, das Wort heißt, wie Du, gliwi, ganz richtig bemerkst, nun mal nicht "abWECHSelnd".
Aber: Daktylus? Es heißt doch auch nicht "ABwechselnd", mit zwei gleich(un)berechtigten Nebensilben!
Im Lateinischen gibt es noch etwas namens Spondeus, das sind zwei Längen... das scheint es am ehesten zu treffen, aber ich habe keine Ahnung, ob man das in der deutschen Lyrik überhaupt kennt.

Aber was mir viel, viel wichtiger ist als die Antwort auf diese Frage: gerade an dieser Stelle, in dem Wort "abwechselnd", gibt es auch im Versmaß ein Zweifeln, ein Schwanken, was ist es denn nun, Daktylus oder Jambus, ein "fallender" oder ein "steigender" Versfuß, Stein oder Gestirn...

Ist es nicht genug, in einer Interpretation diese Fragen zu stellen?


Liebe Grüße in die Runde!

stilz
Zuletzt geändert von stilz am 5. Okt 2008, 09:35, insgesamt 1-mal geändert.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
gliwi
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Beitrag von gliwi »

ja, stilz, den Spondeus gibt es.( Er kommt allerdings so selten vor, dass man den Begriff oft gar nicht lernt.) Würde ich an der Stelle auch akzeptieren.
Gut, dass du darauf hinweist, dass es nicht damit getan ist, Formen und Abweichungen zu erkennen, sondern dass sie in die Interpretation einbezogen werden müssen. Es heißt übrigens wirklich "von dir".
Das Gedichteschreiben meinte ich ja auch nur als Beispiel, das ist eben für Rilke der "Stern", für andere ist es etwas anderes. Richtig ist, dass es aus dem Gedicht selbst nicht hervorgeht, sondern biographische Zutat ist.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
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Volker
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Beitrag von Volker »

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Hallo und hier meine fünf Pfennig:

ich stimme stilz zu: der Abend hat hier mit Lebendsabend nichts zu tun. Das Gedicht beschäftigt sich mit der Abendstimmung und den dabei enstehenden Gedanken zum zweifachen Wesen des Menschen: einerseits das irdische (Stein, fällt), andererseits das, was uns mit dem Himmlischen (Gestirn, himmelfahrend) verbindet. Irgendwie gehören wir beiden "Ländern" an, aber doch nicht "ganz". Und das ist wirklich "unsäglich zu entwirrn".

Was mag wohl mit dem "Haus, das schweigt" gemeint sein. Vielleicht die Kirche? Die uns "dunkel" läßt, d.h. keine Antwort gibt auf unsere Lebensfragen?
Ich hab' auch Verstand.©
gez. Volker
Dorion
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Registriert: 1. Nov 2006, 12:53

Beitrag von Dorion »

Sicher ist hier viel gutes schon gesagt worden,

ich schließe mich ebenfalls der meinung an, dass der Naturvorgang Abend, als "Zwischen-"Zustand in der Schwebe, in dem es weder ganz hell noch ganz dunkel ist, in dem sich praktisch zwei welten "überschneiden",
in seiner "zweigeteiltheit" der menschlichen Seele ähnlich ist, die diese Spannung zwischen erdgebundenheit und Teilhabe am Ewigen verstärkt am Abend spürt , in dem auch die Natur ein Schnittpunkt zweier "welten" ist und dadurch unruhig wird, sich ihrer "Heimatlosigkeit" bewusst wird.Ein Teil von ihr hängt noch dem Tage, dem Erdschweren nach, ein anderer ist berührt von der Einsamkeit des Abends.


und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt

Ich denke, dass das schweigende Haus etwas gänzlich dem Tag zugehöriges darstellt. Bei tag ist es lebhaft, menschen trabbeln auf und ab, hektik, geschrei, emotionen fließen- bei abendbeginn jedoch erstirbt es vollends, nicht einmal seufzer durchziehen es, es kann mit dem Abend also "gar nichts anfangen" - im Gegensatz zum Menschen, der "nicht ganz so dunkel ist wie das Haus das schweigt".
franziska.ruloff
Beiträge: 1
Registriert: 20. Mai 2007, 16:17

Beitrag von franziska.ruloff »

Ihr diskutiert immer darüber, warum die erste Silbe des letzten Verses betont ist.. Das ist eine Tonbeugung. (Rhythmus läuft gegen das Metrum.) Eine solche Tonbeugung hebt das Ausgesagte besonders hervor (Funktion ähnlich wie die einer Synkope in der Musik).
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