Wer könnte mir sagen, wen das Pronomen "IHM" erset

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Dasha
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Wer könnte mir sagen, wen das Pronomen "IHM" erset

Beitrag von Dasha »

:( Wer könnte mir sagen, wen das Pronomen "IHM" ersetzt? Für Ihre Mühe danke ich im Voraus!
...Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.

aus: Die achte Elegie, von R. M. Rilke
Wen ersetzt das Pronomen "IHM" in dieser Satz? das Offene? der Tod? Oder der andre?
Bitte Sie erklären mir!

Danke im Voraus!

Dasha
so leben wir und nehmen immer Abschied.
Paula
Beiträge: 239
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Beitrag von Paula »

Hallo Dasha ,

schön mal wieder, was von Dir zu hören ! Wie geht es Dir ?

Zu Deiner Frage will ich eine Antwort versuchen - auch wenn ich die "Duineser Elegien" als das Schwerste empfinde, was R. M. Rilke je geschrieben hat.

Ich könnte mir also vorstellen, dass mit dem "Ihm" das Liebende Gegenüber gemeint ist, dass die Sicht verstellt auf das Offene . Das würde auch aus dem Folgenden erklärbar:

"Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern... Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,
von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber."


Die Liebenden stehen sich gegenüber - das ist Schicksal - und finden so nicht die Sicht auf das befreiende Offene . Eigentlich ist das Offene in der Liebe schon vorhanden, aber man verstellt sich gegenseitig die Sicht. Nur indem man loslässt - gemeinsam in Richtung auf das Offene, Freie schaut - erkennt man das Befreiende Offene . Nur in gegenseitiger Akzeptanz der Freiheit der Liebenden kann das Offene gefunden werden . Anderen Falls ist es nur eine Spiegelung von sich selbst und damit ein Rück-Schritt in die Welt.

Das ist nur ein Versuch einer Interpretation . Sicher haben auch andere hier im Forum dazu Gedanken und Überlegungen. Ich freue mich über einen Austausch !

Liebe Grüße von Paula :lol:
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Beitrag von stilz »

Hallo,


ja, Paula, ich sehe das ganz ähnlich wie Du.
Nur eine kleine „Spitzfindigkeit“:

Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.


Ich glaube, „ihn“ in der ersten Zeile meint tatsächlich das Gegenüber des Liebenden. „ihm“ in der nächsten Zeile scheint mir aber den Liebenden selbst zu meinen, dem der Blick verstellt wird, und dem daher „wieder Welt wird“…

Dieser Begriff bei Rilke, “jemandem wird Welt“, fasziniert mich schon seit längerem, auch im Zusammenhang mit


NÄCHTLICHER GANG

NICHTS ist vergleichbar. Denn was ist nicht ganz
mit sich allein und was je auszusagen;
wir nennen nichts, wir dürfen nur ertragen
und uns verständigen, daß da ein Glanz
und dort ein Blick vielleicht uns so gestreift
als wäre grade das darin gelebt
was unser Leben ist. Wer widerstrebt
dem wird nicht Welt. Und wer zuviel begreift
dem geht das Ewige vorbei. Zuweilen
in solchen großen Nächten sind wir wie
außer Gefahr, in gleichen leichten Teilen
den Sternen ausgeteilt. Wie drängen sie.


In diesem Gedicht scheint (für mich) Rilke „jemandem wird Welt“ als erstrebenswertes Ziel anzusehen.

Später, in der achten Elegie, schaut es eher so aus, als wäre die „Welt“, die einem „wird“, ein Hindernis

Könnte es sein, daß Rilke zunächst andeutet:
Wenn wir nunmal in diese Welt gekommen sind, dann sollen wir sie auch wirklich ganz und gar erfahren, mit all ihren Einschränkungen und Begrenzungen, aber auch in all ihrer Fülle.

Später aber wird die Sehnsucht immer größer, die „Welt“ mit ihren engen Grenzen zu überwinden oder hinter sich zu lassen, diese Welt mit ihrer Bewußtheit, die uns immer nur Spiegelungen und niemals das Echte, „Freie, Offene“ wahrnehmen läßt…


Was meint Ihr: zu „esoterisch“?
Aber das ist für mich gerade eine der Besonderheiten an Rilke: daß in seinen Gedichten immer wieder eine Ahnung dieses Blicks in das „Offene“ zu schweben scheint…


Mit lieben Grüßen

stilz


P.S.: Das ist ein sehr, sehr schönes Bild, Paula:
Daß die Liebenden, die einander auch loslassen können, gemeinsam in Richtung des "Offenen" schauen...
helle

Beitrag von helle »

Von den Liebenden heißt es, sie seien "nah daran", das Offene, "den reinen Raum" wahrzunehmen, in dessen Angesicht man "staunen" müßte. Aber eben nur nah dran (immerhin näher als das in den Alltag verstrickte, "gebräuchliche" Bewußtsein), sogar nur "wie aus Versehn" und eher unwillentlich. Denn tatsächlich schränkt die Elegie dieses erhoffte und befreite Sehen oder besser vielleicht Gewärtigen in verschiedener Hinsicht ein und relativiert es. Zu diesen Einschränkungen, wie sie auch für die "Liebenden" gelten, gehört wohl das einige Zeilen zuvor erwähnte Begehren, von dem Liebende ja allenfalls in platonischen Fällen frei sind, aber auch, darin würde ich dem Beitrag von Stilz zustimmen, daß "Welt wird" (– was hier sicher andere Bedeutung hat als in "Nächtlicher Gang")

Grammatisch lese ich das "ihn" als der (oder auch die) "andere" – der Gegensatz, den Rilke hier so etwas schief aufmacht, wäre dann der von "hinter dem anderen" und "über ihn"; "hinter dem anderen" tut es sich den Liebenden zwar auf (was eigentlich? – das Offene vermutlich), aber "über ihn", über den anderen hinaus gelangt man nicht, betritt das Offene nicht, sondern unser Gegenüber steht im Weg, in der Tat: ein schicksalhaftes Gegenüber, eine Verstrickung in dieses Schicksal, ein der Welt verfallen.

»"ihn" [...] meint tatsächlich das Gegenüber des Liebenden. "ihm" in der nächsten Zeile [...] aber den Liebenden selbst [...], dem der Blick verstellt wird, und dem daher "wieder Welt wird"… « (Stilz)

Finde ich auch - aber ich finde überdies, ohne den "Rilke-Fans" (kann man diesen Blödsinn auf dem Forum nicht mal lassen?) zu nahe treten zu wollen und mit echtem Respekt vor diesem "Born großer Lyrik", diese grammatische Schwierigkeit verweist auch darauf, daß der gute RMR hier nicht so ganz sauber gearbeitet hat.

Gruß, H.
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Beitrag von stilz »

Hallo,


ja klar, natürlich ist es (bei allem Respekt!) immer wieder mal so, daß RMR nicht ganz "sauber" zu arbeiten scheint.

Aber - ohne daß ich ihm diesen "Fehler" gleich wieder nehmen will, indem ich so tu, als ob er das ganz und gar absichtilich gemacht hätte (schließlich, wer kann das schon wissen...):

Das ist halt auch ein Thema, das sich nicht gerade für "Sauberkeit" eignet, findest Du nicht?

Ich zum Beispiel bin ziemlich kurzsichtig, und wenn ich so ohne Brille oder Kontaktlinsen um mich herumschaue, dann ist alles ziemlich verschwommen... und trotzdem wahrscheinlich viel, viel klarer und eindeutiger als RMR's Blick ins "Offene"...

Da kann's schon mal passieren, daß man sich etwas "verschwommen" ausdrückt, oder?


Liebe Grüße!

stilz
Paula
Beiträge: 239
Registriert: 29. Feb 2004, 11:01

Beitrag von Paula »

Hallo,

in der Elegie steckt schon eine ganze Menge ... was könnte das "Offene" für uns heute genau bedeuten ?

Vielleicht finden wir darauf eine Antwort ?!

Viele Grüße, Paula :lol:
Dasha
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Beitrag von Dasha »

:(
was könnte das "Offene" für uns heute genau bedeuten?

Ich halte es mit Paula!

Auf jeden Fall muß ich für eure Antworten danken.
Hab viellen dank, Paula, stilz und helle! Eure Antworten stärkten meine Seele. Einst, griffe ich das "Ihm" wie ihr, aber es hat mich verwirrt, wenn jemand Deutsches in China hat mir das "Ihm" erklärten:-(

Hier ist ein Weihnachtgeschenk für euch! Ich hat Martin Heideggers Werk zu lesen, um Die achte Elegie von Rilke zu begreifen. So Ich habe eine PDF Datei "Wozu Dichter?"(aus: Holzwege von Martin Heidegger) gemachten.
Frohe Weihnachten!

http://www.myrilke.com/anders/Martin%20 ... ichter.pdf

:lol: Grüße aus China

Dasha
Zuletzt geändert von Dasha am 23. Dez 2004, 05:57, insgesamt 1-mal geändert.
so leben wir und nehmen immer Abschied.
Paula
Beiträge: 239
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Beitrag von Paula »

Danke, Dasha, für das Weihnachtsgeschenk . Allerdings habe ich ziemlich lange zum auspacken gebraucht !

Liebe Grüße von Paula :lol:
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lilaloufan
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Welt werden durch ihre Bejahung

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:Könnte es sein, daß Rilke zunächst andeutet:
Wenn wir nunmal in diese Welt gekommen sind, dann sollen wir sie auch wirklich ganz und gar erfahren, mit all ihren Einschränkungen und Begrenzungen, aber auch in all ihrer Fülle.
Später aber wird die Sehnsucht immer größer, die „Welt“ mit ihren engen Grenzen zu überwinden oder hinter sich zu lassen, diese Welt mit ihrer Bewußtheit, die uns immer nur Spiegelungen und niemals das Echte, „Freie, Offene“ wahrnehmen läßt…
http://www.rilke.de/phpboard/viewtopic.php?p=6661#6661 hat geschrieben:Hallo,

genau so. EINVERSTANDEN :lol: !!!
Und das schreibe ich hier auch. Nur dass ich hinzusetzen würde: Dieses Überwinden ist dann weder ein Dagegen-Ankämpfen noch ein Die-Welt-Geringschätzen; der innere Weg ins "Offene" ist ein Überwinden durch Hingabe an das zu Überwindende; er geschieht aus Liebe, wird begangen um der Welt willen. Mir scheint diese Ergänzung wichtig, weil "hinter sich zu lassen" so oft gedeutet wird als Weltflucht. In rechter Weise erübt, ist es dagegen gesteigerte Lebenspraxis. Wie könnten wir sonst heute noch so reich aus dem Erträgnis solcher Praxis schöpfen?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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