Ausgesetzt

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Romana
Beiträge: 2
Registriert: 26. Jan 2003, 19:51

Ausgesetzt

Beitrag von Romana »

Hallo,

kennt jemand eine Interpretation des Rilke-Gedichts "Ausgesetzt
auf den Bergen des Herzens" oder weiß, wo ich eine solche
Interpretation finden kann? Vielen Dank für Eure Hilfe!
torre

Beitrag von torre »

Hallo Romana,
ich weiß leider auch nicht, wo eine Interpretation zu finden ist, aber das Gedicht ist auch eines meiner liebsten.
Herzliche Grüße
Torre
Gast

Beitrag von Gast »

Und noch ein kleiner Nachtrag. Es scheint so, als wenn Rilke von der Malerin Lulu Albert-Lasards zu dem Gedicht im Jahr 1914 inspiriert worden ist.

Für mich spiegelt es eine absolute Abkehr von der Welt wider. Das ganze Gedicht ist durchzogen von der Abkehr von allem, welches wir gemeinhin als Formen und Ausdruck menschleichen Miteinanders ansehen. "Worte", Gefühl" weit weg, allenfalls noch aus der Ferne zu erspähen, aber nicht mehr zu erfahren. Man sollte nicht vergessen, 1914 hatte Rilke eine mehrhährige Periode rast- und bindungsloser Reisen hinter sich. Hat ihm dies die Bezugsfäden zur Welt gekappt?

Dafür finden sich auf den Bergen des Herzens für jenen, der sich dorthin (bewußt?) zurück zieht andere Schätze "es blüht wohl einiges" in der vermeintlichen Ödnis: künstlerische Inspiration!?!

Diese Inspiration kann aber auch verstummen. Ein Risiko, welches die Ausgesetztheit mit sich bringt. Inspiration als unsteuerbarer Prozess, sie kommt, geht, keine Sicherheit.

Der Begriff "ausgesetzt" ist in meinem Verständnis doppelbödig zu interpretieren. Zum einen Ausgesetztheit als - tatsächlich im bergstegerischen Sprachgebrauch verankertes - Bild für einen riskanten exponierten Ort. Auf der anderen Seite zu verstehen als Zeichen des "verlassen seins", als Begriff für die Abgrenzung von der "normalen" Welt.

Dies nur als Interpretationsidee von mir.
Andere Vorstellungen würden mich interessieren.

Torre
Christiane
Beiträge: 27
Registriert: 13. Nov 2002, 10:02
Wohnort: Köln

ausgesetzt... und Lulu

Beitrag von Christiane »

hallo,

die entstehung des gedichts "ausgesetzt..." hat nichts mit lou albert-lasard zu tun (zitat lou: "er hatte es in mein kleines buch geschrieben, obwohl es schon vor unserer begegnung bestand") , wohl aber die des "antwortgedichts" :

Einmal noch kam zu dem Ausgesetzten,
der auf seines Herzens Bergen ringt,
Duft der Täler. Und er trank den letzten
Atem wie die Nacht die Winde trinkt.
Stand und trank den Duft, und trank und kniete
noch ein Mal.

Über seinem steinigen Gebiete
war des Himmels atemloses Tal
ausgestürzt . Die Sterne pflücken nicht
Fülle, die die Menschenhände tragen,
schreiten schweigend, wie durch Hörensagen
durch ein weinendes Gesicht.

soweit das antwortgedicht. wen die berichte lous über rilke interessieren: lou albert-lasard: wege mit rilke, fischer-verlag 1952 (muß man sich antiquarisch besorgen)

gruß, christiane
Romana
Beiträge: 2
Registriert: 26. Jan 2003, 19:51

Ausgesetzt...

Beitrag von Romana »

Hallo Christiane, hallo torre,

"Ausgesetzt" ist für mich die Verweigerung, sich in die
Wirrnisse von Gefühlen verwickeln zu lassen - bewußte Helikoptersicht
auf das Unabgeklärte und Unruhige unten: "der
große geborgene Vogel kreist um den Gipfel reine Verweigerung".
Gleichzeitig spüre ich das Sehnen heraus, Gefühle zuzulassen:
" - Aber ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens..." Zwiespalt.
Die Luft ist dünn dort oben. Ist es besser, nach anstrengender Gefühls-Wanderung in Gipfelregionen vorzudringen - an Freundschaften zu arbeiten - oder ist es vorzuziehen, eine abgehobene, abgeklärte Position einzunehmen, die Verletzungen ausschließt?
Verlassenheit nach der Wanderung auf die Berge des Herzens - man ist plötzlich allein nach einer emotionalen Hochleistung - "Steingrund unter den Händen". Kurzatmigkeit - wie zurückfinden?
"Da geht wohl, heilen Bewußtseins, manches umher, manches gesicherte Bergtier, wechselt und weilt."...Manche Menschen kommen mit dieser Gefühlswelt eben besser zurecht als andere, bewegen sich sicher zwischen den Kategorien "mögen", "lieben", "gern haben" ect. und Schattierungen dieser Gefühle, und können mit ihren eigenen Empfindungen besser umgehen als viele andere: Ausnahmen, die ein "unwissendes Kraut", das singend hervorblüht, besser zuordnen können als die meisten von uns.

Vielleicht bin ich damit völlig daneben - bitte schreibt
Romana [url][/url]
torre

Versuch einer Schärfung ...

Beitrag von torre »

Hallo Romana,

ich glaube, wir beide erspüren in "Ausgesetzt" eines der großen Rilke-Themen: Einsamkeit! In vielen Gedichten von Rilke scheint dieses Gefühl auf, als Qual und Verheißung gleichermaßen. In dem Gedicht "Einsamkeit" heißt es:

"Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. "

Die Frage, Romana, in der wir Rilke womöglich unterschiedlich interpretieren, ist jene, ob der Dichter die Einsamkeit tief in seinem Innersten will, ob er sie, schweren Herzens zweifellos, als hohes Ziel und Erfüllung akzeptiert? Dass er um Einsamkeit "ringen" muß, spricht Rilke selbst in seinem Antwortgedicht (Danke Christiane) an Lou Albert-Lasards aus.

Mein Eindurck ist, dass Rilke sich keineswegs danach sehnt Gefühle zulassen zu können, vielmehr stürzen sie manchmal auf ihn ein, lawinengleich, um im Bergbild zu bleiben, aber mit der Implikation, dass sie den Blick und den Weg zum großen Ziel verstellen, Hürde sind, auf einem Weg, den es sich trotz aller Widrigkeiten lohnt zu gehen.

Vielleicht stelle ich das Künstlerische im wesen Rilkes zu sehr in den Vordergrund, aber erneut scheint mir das Streben nach Inspiration ein Drang zu sein, der Rilke die Einsamkeit wählen lässt. In seinem Florenzer Tagebuch schreibt er:

"Wisset denn, dass die Kunst ist: das Mittel Einzelner, Einsamer, sich selbst zu erfüllen."

Dass Rilke eine tiefe Verbindung zwischen Kunst und Einsamkeit sieht, scheint mir damit deutlich zu sein. Nicht jedoch zeigt das Zitat, ob künstlerisches Schaffen der Einsamkeit als Nährboden bedarf, oder ob es lediglich das Ventil, das letzte Fenster zur Welt, des Einsamen ist.

An anderer Stelle aber, in seinem Brief an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus, bezieht Rilke in dieser Frage eindeutig Postion. Er mahnt darin:

"Sie dürfen sich nicht beirren lassen in Ihrer Einsamkeit, dadurch, dass etwas in Ihnen ist, das sich herauswünscht aus ihr ... es ist gut, einsam zu sein, denn Einsamkeit ist schwer; dass etwas schwer ist, muss uns ein Grund mehr sein, es zu tun."

Hierin drückt sich ein beinahe christliches Duldungspostulat aus: Mühsal und Entsagung als Wegbereiter zu..., ja zu was?? Gott? Dies ließe den (zugegebenermaßen gewagten) Schluß zu, Rilke fasse Kunst als etwas Göttliches auf. Und so wie Götter den Menschen entrückt und somit einsam sind, so sieht Rilke eventuell auch die Stellung des Künstlers. Der Welt entsagend, die Kunst lebend, ein Werk schaffend, welches weit über der gemeinen Ausdrucksmöglichkeit der Masse steht, "in hohem Bogen über das Volk hinweg" gehend, wie es in den Florenzer Tagebüchern heißt.

Ein Diskurs, ob die Kunst in dieser Sicht von Gott (im religiösen Sinn) kommt, oder ob der Künster als Mensch höheren Bewußtseins möglicherweise an dies Stelle Gottes tritt, sprengt wahrscheinlich den Rahmen unseres Gedankenaustausches hier.

So sind es die Begriffe Einsamkeit und Entsagung, im Sinne gewollter emotionaler Askese, die ich in "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens" als Grundmelodie zu hören vermeine.

Grüße
Torre

P.S. Die Verbindung von Einsamkeit und Kunst wird übrigens von vielen kreativ Schaffenden betont. Picasso: "Nichts kann ohne Einsamkeit geschehen. Ich habe mir eine Einsamkeit geschaffen, die niemand ahnt."
giannalaura@web.de

Re: Ausgesetzt

Beitrag von giannalaura@web.de »

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Romana hat geschrieben:Hallo,

kennt jemand eine Interpretation des Rilke-Gedichts "Ausgesetzt
auf den Bergen des Herzens" oder weiß, wo ich eine solche
Interpretation finden kann? Vielen Dank für Eure Hilfe!
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