An der sonnengewohnten Straße: Interpretation???

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Anna

An der sonnengewohnten Straße: Interpretation???

Beitrag von Anna »

An der sonnengewohnten Straße, in dem
hohlen halben Baumstamm, der seit lange
trog ward, eine Oberfläche Wasser
in sich leis erneuernd, still' ich meinen
Durst: des Wassers Heiterkeit und Herkunft
in mich nehmend durch die Handgelenke.
Trinken schiene mir zu viel, zu deutlich;
aber diese wartende Gebärde
holt mir helles Wasser ins Bewußtsein.

Also, kämst Du, braucht ich, mich zu stillen,
nur ein leichtes Anruhn meiner Hände,
sei's an deiner Schulter junge Rundung,
sei es an den Andrang deiner Brüste.

Ich möchte sehr gerne wissen, was denken Sie daran?
Haben Sie vielleicht Gedanken über das Thema des Gedichtes, stilistische Mittel usw. ???
Dank im Voraus!
helle

Beitrag von helle »

Ich habe mich über die Textgestalt gewundert und sie mit meiner bescheidenen Rilke-Ausgabe verglichen, hatte natürlich geglaubt, es müsse "seit langem" heißen, tut es aber offensichtlich nicht, so widerstrebt es zwar meinem grammatischen Empfinden, aber ändern kann ich's nicht.

In Zeile 1 muß es "sonngewohnten" heißen und "Trog" in Z. 3 muß groß geschrieben werden.

Ich war ganz bezaubert von dem Gedicht, aber mehr vom Gestus und von einzelnen Elementen als vom Ganzen. Ungeheuer raffiniert ist dieser Kerl doch gewesen, wie er die unterschiedlichen Phänomene hier verbindet, das Wasser und die Liebe. Das Wasser genügt ihm nicht, das Trinken ist ihm irgendwie zu platt und plump, "zu deutlich", und es müssen die "Handgelenke" sein, nur so aus den Händen trinken, wäre schon zu profan und durchschnittlich, das Wasser geht auch nicht in den Leib, sondern ins "Bewußtsein" – na. Sein Durst ist halt nicht von dieser Welt.

Zum "stillen" jedenfalls braucht's jene Qualitäten, die am Schluß geschildert sind. (was ich mit raffiniert meine, ist z.B. das "Also", das einen logischen Zusammenhang behauptet, der ja tatsächlich nur im Bewußtsein des Dichters besteht). Und die "Rundung" muß natürlich "jung" sein. Die ganze Ambivalenz von Rilke steckt für mich in diesem Gedicht, auf der einen Seite dieses leicht Gezierte, Affektierte, etwas Weibische, auf der anderen Seite halten mich diese Einwände überhaupt nicht davon ab, von dem Gedicht, seiner Sehnsucht und Verlangen, tief angesprochen zu werden, es bedeutend und schön zu finden. Bißchen subjektives Urteil, ist mir schon klar.

Gruß H.
Michaela

die Brunnen

Beitrag von Michaela »

Hallo,

hier eine kleine Ergänzung:
"...Komm an den Brunnen, der ich bin; ich gebe
die Wasser weiter, selber nicht gespeist....,
und während ich von Spiegelungen lebe,-
was weiß ich denn wie dieses Wasser heißt!

Du selber, sieh: die Schale fehlt Dir, nur
zwei Händler schließen sich erschreckt zum Becher.
Ach, die Erfüllung stürzt aus dem Versprecher
und ist schon fort: vergossene Natur."
R.M. Rilke
Michaela :lol:
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