in der Elektrischen

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Tom

in der Elektrischen

Beitrag von Tom »

Hi,

es muss ein Gedicht von Rilke geben, dass er über die Elektrische geschrieben hat. Seine Erfahrung damit muss aber ziemlich schlimm gewesen sein... :mrgreen: Ein Freund hat es mir erzählt, konnte sich aber nicht mehr an den Titel erinnern...

Kann uns jemand weiterhelfen , einen Tipp geben ???

Viele Grüße von Tom
Renée
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in der Elektrischen

Beitrag von Renée »

Es handelt sich sicher um das Gedicht "Haßzellen, stark im größten Liebeskreise ...", Verse für Oskar Kokoschka. Zuerst erschienen in "Blätter der Rilke-Gesellschaft"16/17, 1989/90, hrsg. von Joachim W. Storck. Dazu die Besprechung von Ingeborg Schnack, jetzt in : Ingeborg Schnack "Über Rainer Maria Rilke. Aufsätze" mit einem Geleitwort von Siegfried Unseld und einer Nachbemerkung von Renate Scharffenberg. Insel Verlag 1996.

Es ist ein sehr langes Gedicht aus dem Jahr 1916 in Wien (18 vierzeilige Strophen und eine kleine Einleitung von Rilke dazu), vielleicht findest Du es ja unter der Anfangszeile. Wenn nicht, so gibt es sicher jemand, der es Dir abschreibt - zur Not tue ich es auch, aber nicht heute.

Gute Tage wünscht Renée
Tom

Beitrag von Tom »

Hallo Renèe,
danke für den Hinweis . Daraufhin haben wir das Gedicht jetzt auch gefunden !
Kaum vorstellbar, dass es vom gleichen Dichter wie das "Stundenbuch" ist . Ich finde das Gedicht "Hasszellen" fast unheimlich - vielleicht entspricht es dem damaligen Expressionismus ?! Vielleicht gibt es ein Forum , um darüber zu diskutieren , aber dann müssten wir es doch hier hinstellen, damit alle es lesen können ?!
Auf jeden Fall vielen Dank und Grüße von Tom :lol:
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Hallo,

ich steig zwar auch nicht ganz durch mit diesem Gedicht; vielleicht jemand anders hier im Forum ?

Geschrieben hat R.M. Rilke das Gedicht Anfang April 1916 in Wien, also während des ersten Weltkriegs.

Da liegen über zehn Jahre zwischen "Stundenbuch" und diesem Gedicht: eine ganz neue Schaffensepoche Rilkes. Dazwischen schrieb er beispielsweise "Das Buch der Bilder" und "Die Neuen Gedichte" und - nicht zu vergessen - den "Malte".

R.M. Rilke hatte dann - in dem Zeitraum , wo "Hasszellen" entstanden ist - wohl auch eine Schaffenskrise.

Hier ist es nun also und demnächst auch unter "Gedichte":

(stehend stunden auf der Elektrischen mit lauter schlechtes Blut ausschlagenden Hinterhälsen vor mir, hab ich mir einen solchen Haß gegen Nacken zugezogen, daß................)

Haßzellen, stark im größten Liebeskreise
daß ihr des tiefen Giftes nicht verlört
in der unendlich zugegebnen Weise
sei unerkannt Unendliches empört.

Seht wie dem eingeschwungnen Widerstande
Brüllen und Ruck entringt, entreißt
doch ein Umfangen nimmt sie an vom Rande
und, was zu widerlegen schien, beweist.

Gequältes Kind, geschwenktes, durch Grimassen,
das an ein fremdes Muttermal gerät -
O nicht die Tür, die Zimmerwand, die Gassen
und Luft, die dich stumm und unstet belädt,

nicht dieser Karrn vorüberfuhr geheimer
nicht diese traumentflossene Gestalt,
ach, Mut zu haben zu dem Abfalleimer,
zur abgestoßnen Ecke die Einfalt.

Schlechtester Stuhl, entlassenes Geländer
Raum unterm Küchenschrank, wer dich erwägt?
Und daß den tragenden, den Kleiderständer,
auch ihn, ein Stern, die Erde trägt.

Wer weint mit diesem Kerzenrest? Ist schwinden
nicht groß genug an diesem Gegenstand?
Du sahst bei dieser Kerze deine Hand;
in welchem Schein wirst du sie wiederfinden?

Ach, dies Gedräng in deinen Blick. Wer hat
in dich gerufen? bist du ein Theater?
Du Hohles, Offnes: in dir steht dein Vater
und starrt enttötet in die volle Stadt.

Wir sind wie Keile Unterwelt hinein
in dichtes Sicht - Unsichtbares getrieben.
Und schon verbiegt sich unser Lieben
an Hüten und an Häuserreihn.

Hab teil an mir, du einstige Tapete
an der ich starrte, fieberernstes Kind.
Wenn ich mich endlich weg ins Zimmer drehte,
warst du in mir, mehr, als die Adern sind.

Und solltest nicht? Wer weiß an deinen Streifen
glitt mir entlang das Lächeln, das zutiefst
in mich verfand. O welche Schmerzen reifen
an den Spalieren, die du blaß verliefst.

Gewagter Bau der innersten Gebäude,
innerster Fenster Blindheit oder Schau,
innerster Gärten Ablaß, Abendfreude
und Dauerung bis Tau und Morgengrau.

Innerster Stille Statuen: aus blauen
Nachtsteinen, die der Pfau mit Schrei bedroht:
Rumpfräume, reiner Kopfraum, den kein Schauen
hinüberzerrt ins unheilbare Rot,

in euch bewohnen wir die Welt. Zerbricht
ein Glas noch ist es nicht in euch zerbrochen,
doch vielleicht fällt es auch in euch nach Wochen
und zieht uns einen Sprung ins Angesicht.

Wir haben nichts, als was dort innen steht,
wir haben alles, was dort innen steht.
Wie fassen wir denn, was dort innen steht,
da auch das Fliegende dort innen steht.

Da auch der Winde mancher innen steht
und Fallendes nicht fällt und innen steht
und dennoch fällt indem es innen steht
fallender fällt indem es innen steht.

Da auch Geschwundenes dort innen steht
Und nicht mehr schwindet seit es innen steht.
Im Schwinden selber steht, was innen steht.
Wie fassen wir denn, was im Schwinden steht?

O Blütenbaum, o Blütenbaum in mir,
jetzt bist du endlich auf der Jubelseite
singst nicht in Blicke mehr und hast, statt vier
Zeiten des Jahres, Himmel nach der Breite

Und du, o meine Heldin, Nachtigall,
wie konnte dir ein Zwischenraum genügen:
in mich erst türmtest du in vollen Zügen
dein stufig ausgerufenes Metall.

Wien, Anfang April 1916

Viele Grüße von Barbara :lol:
Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Hallo,

auch im "Malte" schildert Rilke ja schon ein sehr kritisches Verhältnis gegenüber der Elektrischen. Dort heisst es:

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein. ...

Elektrische Bahnen rasten manchmal überhell und mit hartem, klopfendem Geläute heran und vorbei. Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung hatte und was ich tun mußte, um nicht mehr gehen zu müssen.


Kann es nicht sein, dass auch durch die Kriegsberichterstattung - Rilke arbeitete ja im ersten Weltkrieg im Kriegs-Archiv - sein Blick für "absurde" Situationen - wie in "Hasszellen" - noch geschärft wurde ?

Viele Grüße von Paul
"... Knaben, o werft den Mut/ nicht in die Schnelligkeit,/ nicht in den Flugversuch./ Alles ist ausgeruht:/ Dunkel und Helligkeit,/ Blume und Buch." (R.M. Rilke)
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Hallo,

ja, ich denke, dass könnte ein möglicher Ansatz sein ... Auch wurde er durch diese Kriegszeit , das Militär sicher wieder an die Militärschule erinnert, die er in seiner Jugend besuchen musste und die ja wohl auch sehr belastende , tragische - wenn nicht sogar traumatische - Spuren in ihm hinterlassen hat . Das versucht er auch in einigen seiner frühen Erzählungen zu verarbeiten.

Allerdings weiss ich nicht, ob wir uns so dem Gedicht "Hasszellen" nähern können ? Vielleicht hat jemand hier im Forum auch noch weitere Überlegungen dazu ?

Viele Grüße von Barbara
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