Wer kann mir erklären, was "Sternenstunde" beduete

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Dasha
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Wer kann mir erklären, was "Sternenstunde" beduete

Beitrag von Dasha »

:cry: Wer kann mir erklären, was "Sternenstunde" beduetet? Ist es das astronomische Wort "Sternstunde"?

er ist vielleicht das Ding, das immer gleiche,
um das von fern die Sternenstunde geht,

- Pont du Carrousel, R. M. Rilke

und:

der dunkle Eingang in die Unterwelt
bei einem oberflächlichen Geschlechte.

Warum schrieb Rilke das Wort "Geschlecht" mit "Geschlechte"? Wird es nicht mit "Geschlechter" geschrieben hier?

Haben vielen Dank! :oops:
so leben wir und nehmen immer Abschied.
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Hallo Dasha,
ich bin neulich auf eine chinesische Rilke-Seite im web gestoßen. Hast du die eingestellt? Ich glaube, es stand das Motto drauf, das du immer verwendest.
Nun zu deinen Fragen: es heißt "das Geschlecht, die Geschlechter". Aber hier haben wir einen Dativ, und da hängte man früher ein e an: dem Manne. Das verwendet man heute nur noch in sehr vornehmer, abgehobener Sprache - aber es ist durchaus korrekt. Du wirst es in älteren Texten oft, in klassischen Gedichten immer finden. So etwas gibt es natürlich nicht in der endungslosen chinesischen Silbensprache. Ich vermute, da muss man, um besonders vornehm zu sprechen, gleich ein anderes Wort wählen.
"Sternstunde" ist ein übertragener Begriff, er bedeutet, jemand gelingt etwas ganz besonderes oder etwas Großes ereignet sich. Von Stefan Zweig gibt es das Buch "Sternstunden der Menschheit", und darin beschreibt er z. B. den Kampf um den Südpol und die Eroberung von Byzanz. Eine "Sternenstunde" gibt es meines Wissens als festen Begriff nicht. Aber ich würde es auch als die astronomische Stunde deuten, also nicht durch den Sonnenstand bestimmt, sondern durch die Sternkonstellation.
Liebe Grüße
Christiane (gliwi)
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo gliwi,

vielen Dank für die schöne Erklärung mit dem Dativ -e. Man denkt viel zu wenig an solche Sachen, über die Nicht-Muttersprachler so leicht stolpern.
Bei 'Sternenstunde' hat mich Grimms Wörterbuch etwas aufgeklärt:
Den Begriff gibt es tatsächlich schon in Gedichten von Goethe und Schiller, und - was mich auch überrascht - als ganz normalen astronomischen Begriff, als Zeitmaß: "diesen zeitraum, welchen die jedesmalige umdrehung der erde um ihre achse erfordert, nennt man sterntag und theilt ihn in 24 sternstunden, die sternstunde in 60 minuten sternzeit und die minute ebenfalls in 60 sekunden sternzeit."
Aber als übliche Metapher wohl doch: schicksalsstunde, die über glück und unglück eintscheidet.

Goethe:
kaum wag ichs mich herein zu wagen
was muß die sternenstunde sein?

Schiller:
o! du wirst auf die sternenstunde warten,
bis dir die irdische entflieht!

Orthographie nach Grimm, wo auch die Belege stehen. Enttäuscht, dass Rilke nicht so originell war? Wohl kaum, sein schöner Vers entschädigt. Und was der bedeutet, ist doch wieder anders als bei den Weimaranern.
schönes Wochenende wünscht e.u.
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Volker
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Sternenstunde

Beitrag von Volker »

Hallo!

In diesem Gedicht ist mit Sternenstunde sicherlich ein kosmischer Begriff gemeint, ein bestimmter, gesetzmäßiger Zeitpunkt im Kosmos - unabhängig von der Erdenzeit.

Eine leicht verständliche Erklärung der Sternenzeit (im Unterschied zur üblichen Zeit, die sich am Sonnentag orientiert) findet Ihr unter:
http://docs.kde.org/de/HEAD/kdeedu/ksta ... ereal.html
(Google macht's möglich!)

Dazu noch ein Gedicht von Gottfried Keller:

Unter Sternen

Wende dich, du kleiner Stern,
Erde! wo ich lebe,
daß mein Aug', der Sonne fern,
sternenwärts sich hebe!

Heilig ist die Sternenzeit,
öffnet alle Grüfte;
strahlende Unsterblichkeit
wandelt durch die Lüfte.

Mag die Sonne nun bislang
andern Zonen scheinen,
hier fühl ich Zusammenhang
mit dem All und Einen!

Hohe Lust, im dunklen Tal,
selber ungesehen,
durch den majestät'schen Saal
atmend mitzugehen!

Schwing dich, o grünes Rund,
in die Morgenröte!
Scheidend rückwärts singt mein Mund
jubelnde Gebete!

Gruß!
V.
Dasha
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Beitrag von Dasha »

:D
Liebe Gliwi und lieber e.u.,

Haben Sie vielen Dank! Von Mal zu Mal bekomme ich Ihre Hilfen, Ich finde kaum Worte für mein Dankbarkeitsgefühl!
Liebe Gliwi, die chinesische Rilke-Seite war von mir eingestellt. Können Sie Chinesische lesen? Warte Ihre Korrekturen!
Lieber Volker, Herzlich Danke!

Nochmals vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben. Es wäre sehr shön, wenn ich Sie in China begrüßen könnte. Ich wollen Sie zu einem Drink einladen!
so leben wir und nehmen immer Abschied.
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Nein,nein, lieber Dasha, ich kann nicht chinesisch lesen! Ich habe einmal einen Volkshochschulkurs in Chinesisch gemacht, weil mich die Struktur dieser Sprache interessiert hat, und habe auch ein paar Schriftzeichen kalligraphiert, aber außer "Guten Tag" und "danke" habe ich alles wieder vergessen. Das Motto auf der chinesischen Rilke-Seite war aber nicht chinesisch geschrieben, deswegen habe ich es erkannt. Die chinesischen Zeichen kann ja mein Computer nicht erkennen, da macht er bloß Quadrate.
Liebe Grüße
gliwi
Dasha
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Beitrag von Dasha »

:( Welche Seite?
Siehe die URL http://www.myrilke.com, bitte!
Könnte Sie mir ein besseres Wörterbuch empfehlen? Ich habe "Duden das große Wörterbuch der deutschen Sprache 10 baende auf CD-ROM", "Duden Deutsches Universalwörterbuch 2003 mit Sprachausgabe V3" und "Duden Oxford - Großwörterbuch Englisch-Deutsch-Englisch v.3".
:P
Gruß!
Dasha
so leben wir und nehmen immer Abschied.
muhittin

Beitrag von muhittin »

Hallo,

noch zwei Anmerkungen zum Dativ -e. Die letzte Strophe lautet:

Er ist der unbewegliche Gerechte,
in viele wirre Wege hingestellt;
der dunkle Eingang in die Unterwelt
bei einem obeflächlichem Geschlechte.

1. Das Geschlechte soll mit Gerechte reimen.

2. Mein manchmal suspektes Sprachgefühl sagt mir, daß abgesehen vom Reimen, das Wort Geschlechte (mit e am Ende) stark auf das Wort Schlecht anspielt so wie man ja öfters im Deutschen das Ge- Prefix hat, z.B. im Wort Geläute. Dieser Aspekt verbindet dann auch bedeutungsmäßig mit dem Wort Gerechte zu Beginn der Strophe. Mit dem -e wird hier also auch der Kontrast Gerecht/Schlecht hergestellt.

Gruß, Muhittin.
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Volker
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Dativ e

Beitrag von Volker »

Hallo,
ganz ohne Sprach"gefühl":
Nein, ich glaube nicht, daß mit dem "Geschlechte" auf das Schlechte angespielt wird. Und das e am Ende ist nicht NUR wegen des Reimes da.
Er ist ...;
der dunkle Eingang in die Unterwelt
bei einem oberflächlichen Geschlechte.
Mit dem ... Geschlechte ist die Menschheit (oder der Teil der Menschheit) gemeint, die an dem Blinden vorüberhastet. Wobei "oberflächlich" zweierlei Bedeutung hat (und wohl auch haben soll): einmal die Menschen an der Oberfläche (in der Oberwelt - im Gegensatz zur Unterwelt) und dann noch die Oberflächlichkeit der Menschen, also die Neigung, am äußeren Schein, an der Mode, am Alltäglichen, an der Schnelllebigkeit usw zu hängen (o Gott, schreibt man das jetzt wirklich mit drei l? Verd... Rechtschreibreform!)
Ein Kontrast ergibt sich aber auch so schon: zwischen "der Gerechte" und dem "oberflächlichen Geschlechte" - der "Gerechte" ist ein edler Mensch, vielleicht sogar ein von höheren Mächten hingestellter Bote oder gar Engel, während das "oberflächliche Geschlecht" nur seinen Vergnügungen oder banalen Tagesgeschäften nachgeht.

Gruß!
V.
Zuletzt geändert von Volker am 4. Jun 2004, 13:06, insgesamt 1-mal geändert.
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo,
die Diskussion um 'Gerechte' und 'Geschlechte' könnte man vielleicht noch etwas weiter ziehen, denn Rilke war doch ziemlich bewandert in der Bibelsprache (gewissermaßen als 1 Ersatz für das von ihm nicht so geliebte Prager Idiom). Da gibt es gute Wortbelege für beide Begriffe, die auch ziemlich erhellend sind.
Für Dasha hätte ich noch eine Empfehlung zu den Wörterbüchern.:Ganz nützlich für den modernen literarischen Sprachgebrauch finde ich das Wörterbuch der deutschen Sprache von Hermann Paul. In der aktuellen 10.Auflage bietet es auch Belege zu Gegenwartsautoren, was das Grimmsche Wörterbuch nicht immer bieten kann. Wenn das Paulsche Wörterbuch nicht zu haben ist, schick' mit doch bitte eine Mail.
Mit guten Wünschen von e.u.
Dasha
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Beitrag von Dasha »

Lieber u.e.

Heute habe ich die Post empfangen, haben vielen Dank. Zu viel Unannehmlichkeit habe ich Ihnen bereitet. Ich weiß gar nicht, wie ich es gutmachen soll. Wenn Sie nach China fahren, vergessen Sie Shenzang nicht!

Liebe Grüße
Dasha
so leben wir und nehmen immer Abschied.
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