Liebe stilz,
herzlichen Dank für Deine eindrucksvolle Antwort und den Kleist-Aufsatz, den zu lesen ich wieder einmal als sehr gewinnbringend, nicht nur für die kleine Diskussion hier, empfunden habe! Die weitere, entdeckungsreiche Beschäftigung mit den Fragen hat mir so viel Freude bereitet, daß ich einige Mühe habe, die Gedanken wieder auf ein überschaubares Maß einzudampfen. Nun dürfte meine Art, Assoziationsfenster zu öffnen, hoffentlich noch im grünen Bereich liegen, beginne also gleich mal mit dem Unbequemen:
stilz hat geschrieben:
Wobei ich gestehe, daß mir noch nicht recht klar wird, was damit gemeint ist:
Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff hat geschrieben:ich fürchte, gerade die, welche Stil suchen und Stil besitzen wie Rilke, werden für diese Zeit des Verfalles zu aristokratisch sein.
Klang auch für mich zunächst etwas kryptisch.
Der Kunsthistoriker Otto Grautoff (der auch über Rodin geschrieben hat) faßte den Verfallsprozeß in der Moderne wie folgt zusammen:
Der gewaltigste Ausdruck der Formzertrümmerung ist der Weltkrieg. (In:
Formzertrümmerung und Formaufbau in der bildenden Kunst, Berlin 1919)
Nach meinem Empfinden könnte Wilamowitz-Moellendorffs Meinung ausgehend von Strömungen der literarischen Moderne (Symbolismus, Impressionismus ...) auf die Formauflösung im Sinne der expressionistischen Kunst hinauslaufen, für deren extremste Ausformungen er Rilke wohl als zu gentlemanlike erachtete, also eher in stillem Leiden verschwiegen, als gar die Dinge schlußendlich zermahlend (Dada) – was Rilke, seinem Anspruch treu bleibend und seine Kunst von keiner Ideologie vereinnahmen lassend, über die als unproduktiv beklagten Kriegsjahre hinaus ja bewiesen hat, wie ich meine.
Scheint im ganzen von mir zitierten Passus nicht auch Sorge mitzuschwingen, besonders die jungen Künstler, wie auch mehr und mehr an Kulturgut verloren gehen sehen zu müssen? (Auch Verluste führten den zunächst kriegsbegeisterten Wilamowitz-Moellendorff zum Gesinnungswandel. Obendrein wurde der Adelsstand 1919 hinsichtlich seiner Sonderrechte "aufgelöst" ...) Als Altphilologe könnte er zudem ein feineres Gespür für einen von Gewaltbereitschaft durchzogenen Zeitgeist entwickelt haben – wodurch ihm auf diesen verlorenen ein weiterer Weltkrieg vor Augen gestanden haben mag ...
Wie in der Chronik zu lesen steht, ahnte Rilke Ähnliches, klagte in einem Brief an den durch den Münchner Arzt Dr. Erich Katzenstein vermittelten Freund und Jurist
Dr. Johann Wilhelm Muehlon, nach der Begegnung in Bern und Lektüre seiner Aufzeichnungen „Die Verheerung Europas“ (Zürich, 1918):
Rilke an Wilhelm Muehlon am 19. August 1919 hat geschrieben: "... sie müßten jetzt erst recht wieder gelesen sein, denn obwohl sich schon alles, was Sie voraussehen und vorfürchten, erfüllt hat, bedarf – unbegreiflicherweise – der Deutsche immer noch genau der gleichen Warnungen; seine Aufbegehrlichkeit, seine Weltlosigkeit, seine Unselbständigkeit hat er nicht überwunden; ja, wo er sich auf sich selbst besinnt, kommt er, nach soviel Veränderungen, genau in der Schicht seiner alten Fehler zu sich und gefällt sich in ihnen nach wie vor."
Holla! "Rückfall zu den abgethanen Formen" habe ich bei Raddatz mal gelesen, fiel mir hierzu ein.
Worauf Muehlon dankend antwortete:
Muehlon an Rilke am 28. August 1919 hat geschrieben: "Als ich Sie sah, glaubte ich deutlich zu fühlen, daß nur die Liebe Sie am Leben erhalten hatte während des Pandämoniums der letzten Jahre ... Daß Ihnen mein Tagebuch, das ich seinerzeit mit großem Widerstreben veröffentlicht habe, etwas sein konnte, ist mir ein großer Trost. Es wurde in Deutschland gar nicht gelesen und hat deshalb seinen Zweck damals nicht erreicht."
Wieder etwas viel Exkurs ... hoffentlich das Zitat etwas erhellend und nicht völlig neben der Spur, Verzeihung, aber irgendwie mußte das sein und liefert immerhin interessante Stichwörter zur Überleitung: Weltkrieg – Formauflösung – Weltlosigkeit.
Rilke steht dennoch drüber ...
Rilke an Dr. Katzenstein am 15. November 1918 hat geschrieben:"... die Gewalt ist ein grobes Werkzeug und ein unübbares, darum bleibt auch der Geist hinter ihm zurück, der keine Gewaltsamkeit kennt, denn Gewalt des Geistes ist ein Sieg von unüberwindlicher Sanftmuth."
Bei ihm gerät die Kunst – trotz "Deformierung" – durch ihre eigentümliche Festlichkeit im Rühmen stets zur erneuernden Retterin aus den Trümmern, oder nicht?
stilz hat geschrieben:
Auch in mir hat sich der Rhythmus dieser Zeilen im Laufe der Zeit gewandelt...
Betonen wir in einem solchen Wort die verneinende Vorsilbe, so legen wir das Gewicht der Aussage darauf, daß etwas verneint wird.
Heben wir aber die zweite Silbe hervor, so lenken wir die Aufmerksamkeit auf dasjenige, was wir verneinen.
Warum nicht? Entspräche das irgendwo gar einem französischen Akzent? Das Französische kennt ja eine "mobile" Betonung in einzelnen Wörtern, sie hängt von der Wortstellung im Satz ab. Im Englischen klar: in
visible. Diese Betonung ist allerdings meiner derzeitigen Empfindung zu fern; noch legt sich ein Schwerpunkt bewußt auf die Verneinungen.
stilz hat geschrieben:
Ich weiß natürlich, wie die Elegien entstanden sind... dennoch: wenn ich sie lese, so empfinde ich sie nicht als „diktiert“, sondern sie werden in mir zu
Selbstgesprächen.
Und indem ich als Lesende in das sich sich selbst gegenüberstellende Ich der Elegien schlüpfe, werde ich Zeuge des
allmählichen Verfertigens der Gedanken beim Reden: beim ersten Aussprechen des Wortes
unsichtbar ist es noch das alltägliche Wort, und ich habe wenig Bewußtsein von der Tragweite dessen, was ich da ausspreche. Aber ich
reagiere innerlich darauf, und das sprechende Ich reagiert nun auf diese Reaktion des sich selbst zuhörenden Ich (ähnlich wie Kleist auf seine Schwester).
Beim zweiten Mal wird mir das Ungeheure daran bewußt – und erst beim dritten Mal begreife ich wirklich, was ich da sage. Nun empfinde ich den „Auftrag“ der Erde, nun erst erkenne ich auch meinen eigenen Willen, nun wird mir bewußt:
- Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Ja. Damit begründest Du recht anschaulich, weshalb ein schwerwiegendes Wort dreimal aufeinanderfolgen sollte: als ein Wieder-Holen ins Bewußtsein. Dazu mal der Beginn einer freirhythmischen Hymne von Klopstock,
Frühlingsfeier:
- Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen! schweben nicht,
Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,
Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!
Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten!
stilz hat geschrieben:Und stimmt nicht gerade das (nämlich, daß hier der Ursprung elegischen Klagens versgestalterisch zum Ausdruck kommen könnte) gut zu dem allmählichen Bewußtwerden der Gedanken, während sie ausgesprochen werden – sowohl für mich als reproduzierende Lesende als auch schon für den das „Empfangene“ nachsprechenden Rilke?
Auch das kann ich nachvollziehen, und sieh an, auch bei Klopstock allmähliches Zuwenden und Bewußtwerden über dreifaches
anbeten; ebenfalls ein Um-die-Erde-herum-sein-wollen des Subjekts; bei Rilke hingegen kein Schweben, Kreisen, sondern bildlich betrachtet wieder "umgestülpt" in einen Bewegungsausgleich. Kann sein, daß das zu gewagt verglichen ist.
stilz hat geschrieben:Ich lese also derzeit so:
- Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? - Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? - Erde! un sicht bar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Erde, du liebe, ich will. ...
Ich so:
- Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? - Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? - Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Erde, du liebe, ich will. ...
Wie Deine Sprech- oder Sangesart im "Verwandlungsprozeß" mehr harmonisierend wirkt, so meine (hoffentlich ergänzend dazu) eher expressiv ... Insofern bin ich recht angetan von dieser Art "mehrstimmigem Chor": In mir schwingt die Sprache zuweilen in tänzerischen Elementen – rhythmisch ergeben sich dabei Sprünge, vorallem mit Schwungholen ins
stehn und Schwungholen ins
sein -- Ich meine, auf diese beiden "zentralen Begriffe" käme es Rilke hauptsächlich an, daher solche Zäsuren. Hier entsteht Zusammenklang im Innehalten, mir scheint, auch Raum für ein ursprüngliches Bedürfnis der (künstlerischen) Stimmen, sich zu erden.
So weit mal von meiner Seite.
Auf daß es hier schön spannend bleibt, herzlich grüßend
sedna