Du hast natürlich recht, ein Gedicht sollte für sich allein stehen können und nicht auf "gedicht-externe" Deutungen angewiesen sein.
Mir selber fällt es inzwischen schwer, Rilkes Gedichte nicht in einem Gesamtkontext zu lesen.
Also habe ich das "Liebes-Lied" vorhin meinem Mann vorgelesen. Er kennt nur sehr wenige von Rilkes Gedichten und hat sich auch sonst nicht näher mit ihm beschäftigt; sein Eindruck rührt also wirklich nur von diesem Gedicht allein her.
Als ich ihn bat, in seinen eigenen Worten zu schildern, was da gesagt ist, meinte er (er ist gewohnt, sich sehr sachlich auszudrücken ):
"Er denkt sich: ruhiger wäre das Leben, wenn wir getrennte Wege gingen. Aber da das Schicksal uns nun einmal zusammengespannt hat und wir einander auch nicht ganz egal sind, wird wohl aus der Ruhe nichts werden…"
Siehst Du - jetzt bin ich also noch viel sicherer, daß die Lesart, die ohne eine "Absage" des "Du" auskommt, ganz allgemein vorstellbar ist. (Mein Mann sagte sogar noch: "Wenn es hier eine Absage geben sollte, dann doch eher eine von ihm, falls es ein Er ist, der das geschrieben hat...")
Ich glaube, daß Du davon ausgehst, jeder Mensch wolle in allererster Linie "erfolgreich geliebt werden", vielleicht im Sinne von "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute..."
Dadurch mußt Du natürlich erst eine Absage hinzukonstruieren (denn davon steht nun wirklich nichts in diesem Gedicht; von den "anderen Dingen" wohl), um einen Grund dafür zu haben, daß dieses spezielle "Lyrische Ich" sagt, es wolle etwas anderes.
Deine Grundannahme mag für viele Menschen zutreffen, vor allem, wenn sie verliebt sind - aber eben nicht für alle.
Wir sind es gewohnt, mit "Liebe" nicht "Verlust" zu verbinden, sondern eher "Gewinn": Man gewinnt die Liebe eines anderen Menschen.
Helle aber spricht von der "Angst, sich im anderen zu verlieren", mein Mann davon, "die Ruhe zu verlieren".
Verlust - das ist sozusagen die andere Seite von Gewinn.
Ebenso wie man Angst wohl als die andere Seite der Liebe bezeichnen könnte (siehe meine Signatur).
Ich freue mich, daß Du meine "Bemerkungen unter Heranziehung wunderbarer Zitate" magst - ich werde mir also keinen Zwang antun und noch eines heranziehen:
In der vierten der "Duineser Elegien" schreibt Rilke (Hervorhebung von mir):
- Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz,
ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft
ist uns das Nächste. Treten Liebende
nicht immerfort an Ränder, eins im andern,
die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat.
Da wird für eines Augenblickes Zeichnung
ein Grund von Gegenteil bereitet, mühsam,
daß wir sie sähen; denn man ist sehr deutlich
mit uns. Wir kennen den Kontur
des Fühlens nicht: nur, was ihn formt von außen.
Ingrid